Prof. Dr. Leighton Flowers im Gespräch mit Dr. Ken Wilson
Eine leicht gekürzte Übersetzung aus dem Englischen von Esther Dorendorf

www.soteriology101.com/2019/03/11/was-st-augustine-the-first-to-introduce-calvinism-to-the-church

Dr. Flowers: Unser Gast heute ist der Arzt Dr. Ken Wilson. Er ist ein orthopädischer Handchirurg und Diplom-Theologe. Aaber nicht nur das, sondern er hat auch in Oxford den Doktorgrad der Philosophie erworben. Er behandelt in seiner Dissertation die Ansichten, die Lehrmeinungen von Augustinus. Dr. Wilson, Sie sind aktuell einer der versiertesten Gelehrten zu Augustinus. Sie haben nicht nur alle seine Werke gelesen, sondern haben sie tatsächlich in chronologischer Reihenfolge gelesen und dann eine Oxford Dissertation zu dem Thema verfasst. Mit anderen Worten, Sie sind einer der wirklich schlauen Leute, denen wir gut zuhören müssen. Ist das so korrekt?

Dr. Ken Wilson: Am Anfang meines Buches sage ich, dass ich mich nicht für schlauer halte als andere Leute. Ich sage gerne, ich habe nur die Anweisungen von Augustinus befolgt. Er hat selbst gesagt, man müsse seine Werke in chronologischer Reihenfolge lesen, um seine Entwicklung zu verstehen. Erstaunlicherweise hat das niemand bisher so getan. Ich bin also nur seinem Ratschlag gefolgt.
Flowers: Sie haben als Lehrbeauftragter am Gateway Seminary unterrichtet, Sie sind also zu einem gewissen Grad mit den Southern Baptists verbunden, aktuell unterrichten Sie an der Grace School of Theology. Erzählen Sie uns einfach etwas von dem Lernprozess, den Sie bei Ihrem Unterfangen durchlaufen haben.

Wilson: Als ich nach Oxford ging, war es mein Ziel, Augustinus zu studieren und herauszufinden, warum er seine Ansichten geändert hat. Unter den Gelehrten ist es allgemein als Tatsache bekannt, dass er seine Ansichten geändert hat, und zwar von dem traditionellen Konzept des freien Willens weg, um zu einem mehr deterministischen Standpunkt zu gelangen. Die Frage war: Wann hat er umgedacht und warum? Das Ziel war also herauszufinden, was genau passiert ist. Dazu muss man mit seinem ersten Werk beginnen, sich dann durch alle seine Werke hindurch lesen und mit dem letzten Werk enden. Alle seine Briefe, alle seine Predigten, alles, was noch erhalten geblieben ist. Einige wenige seiner Werke sind verlorengegangen, aber die meisten sind uns erhalten geblieben und diese muss man in der richtigen Reihenfolge lesen.

Flowers: Was haben Sie herausgefunden?
Wilson: Interessanterweise wird Ihnen fast jeder Gelehrte sagen, dass Augustinus seine Ansichten um das Jahr 396 n.Chr. änderte, als er dem Bischof Simplicianus nach Mailand schrieb. Der Grund ist Folgender: Er beginnt mit der traditionellen Ansicht, dann in der Mitte des Buches schaltet er um auf eine strengere Sicht der Souveränität Gottes. Dann verschwindet dieser Gedanke plötzlich wieder für etwa fünfzehn Jahre. In dieser Zeitspanne benutzt er die traditionellen Argumente und Verteidigungsstrategien und dann im Jahr 412 kommt er plötzlich mit dieser neuen Theologie hervor. Man kann richtig verfolgen, wie er mit ihr schwanger ging und sie dann zur Welt brachte. Interessanterweise nimmt jeder an, weil diese Ansicht bereits 396 auftauchte, dass sie irgendwie fünfzehn Jahre lang stets stillschweigend vorhanden gewesen sei. Ich fand es schwierig zu glauben, dass Augustinus fünfzehn Jahre lang an einer Art Amnesie litt und dann diesen Gedanken wieder aufgriff. Meine Dissertation zeigt also auf, dass Augustinus, nachdem er völlig umgedacht hatte, sich einige seiner Werke erneut vornahm und Teile dieser frühen Schrift [Simplicianus] revidierte. Er revidierte auch vier weitere Bücher, ohne dies bekanntzugeben. Es ist tatsächlich nicht ungewöhnlich für einen Autoren, zurückzugehen und nachträglich Revisionen an seinen eigenen Werken vorzunehmen.

Flowers: Ich habe gelernt, dass Augustinus ursprünglich ein manichäischer Gnostiker war. Was bedeutet das genau? Viele haben keine rechte Vorstellung davon, was der Manichäismus und der Gnostizismus ist. Man hat mich schon beschuldigt, zu polemisch zu sein, weil ich behauptet habe, dass einige der gnostischen Gedanken von damals Ähnlichkeiten mit aktuellen calvinistischen Vorstellungen haben. Natürlich wird niemand behaupten, dass die Calvinisten von heute genau das sind, was die Gnostiker des vierten und fünften Jahrhunderts waren, aber es gibt sehr wohl Ähnlichkeiten in Bezug auf das Konzept des Determinismus. Können Sie unseren Zuhörern ein wenig helfen zu verstehen, wie der Gnostizismus in jenen Tagen aussah und inwiefern Augustinus möglicherweise durch seine früheren Wurzeln im Gnostizismus beeinflusst war?

Wilson: Sicher. Interessant ist das erste Kapitel meiner Dissertation, in dem ich alle antiken Philosophien und Religionen daraufhin untersuche, welche Haltung sie zur Frage des Determinismus versus freien Willen einnehmen. Die Gnostiker waren berühmt dafür, dass sie daran glaubten, dass alle Dinge festgelegt waren. Sie waren Dualisten: Alles Geistliche war gut, alles Physische war böse. Die Menschen waren zum Himmel oder zur Hölle vorherbestimmt; die Erwählten wurden den Nicht-Erwählten gegenübergestellt. Das Gleiche gilt für die Manichäer. Der Manichäismus ist bekannt geworden als die reinste und höchste Form des Gnostizismus, die größte Gruppe, die aus dem Gnostizismus hervorging. Die Manichäer lehrten etwas Ähnliches, nämlich dass es einen guten und einen bösen Gott gibt. Der böse Gott erschuf die irdische Welt. Man konnte jede Form von Sex haben, mit jedem beliebigen Partner, das war keine Sünde, aber wenn eine Frau in ihrem Mutterleib ein Kind empfing und dieses zur Welt brachte, das war eine Sünde, weil damit Böses in die Welt kam, weil etwas Physisches passierte. Und dieses Kind war bereits von Geburt an verdammt, allein aufgrund seiner physischen Natur. Und der gute Gott musste also den toten Sünder zum Leben erwecken und dann diesem Sünder Glauben einflößen, um diesen Sünder aufzuwecken und ihn zum Glauben zu bringen. Den Glauben einflößen, das war die Ansicht der Manichäer. Und Sie liegen richtig, dass Augustin zehn Jahre als Manichäer lebte. Die meisten Leute meinen, es wären neun Jahre gewesen, aber Chadwick und andere liegen richtig, wenn sie von zehn Jahren ausgehen. Augustin war sehr tief in dieser manichäischen Lehre verwurzelt.

Flowers: Aber so wie ich die geschichtlichen Entwicklungen aufgrund meines eigenen Studiums verstanden habe, scheint es, dass sich die große Debatte jener Zeit um die Frage der Säuglingstaufe und der Verdorbenheit des Menschen von Geburt an drehte. Man hatte dieses böse Kind und man sah sich verpflichtet, etwas zu tun, um das Problem der Erbsünde zu lösen, und hier scheint der Manichäismus eine Rolle zu spielen. Der Mensch war von Geburt an verdorben und die Säuglingstaufe schien eine Möglichkeit zu sein, das Problem im Sinne der Taufwiedergeburtslehre zu lösen.
Wilson: Sie sind da auf der richtigen Spur. Schon sehr früh, bereits im dritten Jahrhundert, fragte Tertullian: „Warum taufen wir Säuglinge? Warum warten wir nicht, bis sie alt genug sind zu glauben?“ Wir wissen, dass man schon sehr frühzeitig mit der Praxis begann, Säuglinge zu taufen, aber niemand wusste warum. Auch Augustinus im Jahr 400 n.Chr. wusste nicht, warum Säuglinge getauft wurden. Aber was passierte, war, dass er im Jahr 412 mit Pelagius in einen Streit über die Säuglingstaufe geriet. Augustinus warf zwei Beispielfälle in die Debatte ein: Zwei Babys werden geboren. Eines wird von einer Prostituierten auf der Straße zur Welt gebracht, das andere Baby wird von christlichen Eltern zur Welt gebracht. Sie werden beide sterbenskrank. Die christlichen Eltern eilen zum Taufbecken, aber schaffen es nicht rechtzeitig. Das Baby stirbt in den Armen des Bischofs, bevor es getauft wird und dieses Baby kommt in die Hölle. Das andere Baby, das der Prostituierten, wird eilends von einer [frommen] Jungfrau in die Kirche gebracht. Dieses Baby wird getauft und dadurch errettet. Natürlich glaubten sie damit, dass der Akt, den Säugling in das Wasser einzutauchen, den Säugling rettete und dass der Säugling in diesem Moment den Heiligen Geist bekam. Augustinus fragte sich, worin sich die Säuglinge unterschieden, und kam zu dem Schluss, dass es nur die Vorsehung Gottes sei. Gott ist derjenige, der entscheidet, ob ein Säugling gerettet wird oder nicht, was daran zu erkennen ist, ob dieses Baby rechtzeitig ans Taufbecken gebracht werden kann oder nicht. Gott ist derjenige, der die Umstände kontrolliert. Deshalb ist es nicht etwa der menschliche Wille, der errettet, etwa weil man sich mit seinem Willen gegen das Böse und für das Gute entscheiden könnte. Gott ist derjenige, der entscheidet. Es hat nichts mit dem Menschen zu tun. Augustinus verteidigte also seine neuen Argumente mit Hilfe der Säuglingstaufe.

Flowers: Offensichtlich gab es also zu jener Zeit nicht die Debatte Calvinismus versus Arminianismus, wie wir sie heute kennen, das wäre natürlich anachronistisch. Die ganze Debatte zu TULIP (siehe Erklärung am Ende dieses Absatzes) und der Soteriologie war also nicht das, was Augustinus und Pelagius miteinander diskutierten. Vielmehr diskutierten sie über die verdorbene Natur des Kindes von Geburt an und was man mit dieser verdorbenen Natur machen sollte und ob man deshalb den Säugling taufen sollte oder nicht. Egal, was wir von Pelagius heute halten, es scheint mir, dass Pelagius die Seite einnahm, die viele von uns heute einnehmen, wenn wir uns an die Glaubenstaufe halten, bzw. daran, dass nur Gläubige getauft werden sollten. Es scheint mir, dass Pelagius tatsächlich diese Perspektive gegen Augustinus verteidigte, der an die Erneuerung der Säuglinge in der Taufe festhielt.
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Im anglo-amerikanischen Raum hat sich das Akrostichon TULIP eingebürgert, weil die fünf Punkte mit den Anfangsbuchstaben T-U-L-I-P beginnen. Das englische Wort tulip heißt auf Deutsch „Tulpe“ (Anm. d. Hrsg.):
T – otal depravity Totale Verderbtheit (des Menschen)
U – nconditional election Unbedingte (souveräne) Erwählung
L – imited atonement Begrenzte Sühnetat Jesu Christi
I – rresistable grace Unwiderstehliche Gnade (oder wirksame Gnade)
P – erserverance of the saints Beharrung der Gläubigen (bis ans Ende)
(Anm. d. Hrsg.)
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Wilson: Sie haben völlig Recht. In der Tat war Augustinus der Erste, der die Idee artikulierte, dass die Säuglingstaufe eine geistliche Erneuerung bewirke und einen errettenden Charakter hätte. Niemand zuvor hatte das so deutlich in Worte gefasst. In meiner Dissertation führe ich aus, dass damals alle an die Erbsünde glaubten. Sie glaubten, dass die Erbsünde den physischen Tod, eine Neigung zur Sünde und ein geschwächtes moralisches Wahrnehmungsvermögen beinhalte. Was aber jetzt hinzugefügt wurde, war die Schuld. Es war jetzt eine verdammungswürdige Schuld, überhaupt von Adam geboren zu werden. Und Augustinus ist derjenige, der das hinzufügte. Und Sie haben Recht: Pelagius sah das Baby nicht als verdammt an, er dachte, Babys, die starben, würden in den Himmel kommen, weil sie nicht gesündigt hatten. Auch alle anderen glaubten das. Er hatte in anderer Hinsicht Schlagseite, aber wenigstens in diesem Punkt lag er richtig. Als Augustinus zu der Erbsünde den Aspekt der Schuld hinzufügte, begannen auch andere, sich zu beschweren; sie hatten damit ein Problem.

Flowers: Wir haben das Thema schon öfters hier auf diesem Kanal besprochen. Für diejenigen, die dazu mehr lesen wollen, Dr. Adam Harwood von New Orleans hat dazu ein sehr hilfreiches Buch verfasst . Er äußert sich zu dem natürlichen Zustand eines Kindes von Geburt an. Der Mensch wird unter dem Fluch der Sünde und in eine sündige Umgebung hineingeboren, jedoch nicht so, als ob er die Schuld seiner Eltern tragen müsste. In Hesekiel und einigen anderen Abschnitten der Schrift heißt es, dass der Mensch nicht verantwortlich gemacht wird für das, was seine Eltern oder Großeltern getan haben – genauso, wie es auch intuitiv von jedem akzeptiert wird, dass wir für unsere eigenen Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht für die Entscheidungen derjenigen, die vor uns gelebt haben. Augustinus war wohl historisch gesehen der Erste, der das Konzept der ererbten Schuld so deutlich formulierte, nämlich dass wir aufgrund von Adams Sünde von vornherein schuldig sind. Ich habe oft das Argument vorgebracht: Wenn Calvinisten oder theistische Deterministen sagen, dass ein Mensch für seine Wahl verantwortlich ist, was sie wirklich meinen ist, dass ein Mensch nicht fähig ist, willentlich zu reagieren, dass er aber dennoch schuldig ist aufgrund der von Adam ererbten Sünde. Ich stelle das gern heraus, denn sie benutzen die gleichen Worte, haben aber ein anderes Wörterbuch. Denn wenn sie die Wörter „verantwortlich“ oder „schuldig“ aussprechen, meinen sie oft etwas Anderes, als wir meinen. Wenn ich also sage, ein Mensch ist „verantwortlich“ oder „schuldig“, meine ich damit, dass er in der Lage ist, für seine Handlungen Rechenschaft abzulegen; er hat das entsprechende Alter, so dass er fähig ist, Rechenschaft abzulegen; er hat die Verantwortung, willentlich auf Gottes Ruf zu reagieren oder auch nicht zu reagieren; und für seine Entscheidung wird er dann zur Verantwortung gezogen. Das ist auch das, woran die meisten Menschen intuitiv denken, wenn sie das Wort „verantwortlich“ benutzen. Aber ein augustinisch oder calvinistisch geprägter Mensch spricht auch davon, dass ein Mensch „verantwortlich“ ist, meint aber damit, dass er nicht in der Lage ist, eine eigenständige Wahl zu treffen, dennoch aber von Geburt an schuldig ist und auf Grund von Adams Fehlentscheidung im Garten Eden zur Verantwortung gezogen wird. Ist das eine korrekte Darstellung?

Wilson: Ganz genau. Und das ist genau das, was die Manichäer lehrten. Es ist eine manichäische Idee und keine christliche Ansicht. Augustinus hat das aus seinen zehn Jahren als Manichäer mitgenommen und in die Christenheit eingeführt, um die Pelagianer zu bekämpfen.

Flowers: Ich habe oft argumentiert, dass Pelagius für den deterministischen Strang der Christenheit so etwas wie der Schwarze Mann geworden ist. Diejenigen, die sich auf Augustinus‘ Seite stellen, haben gute Arbeit geleistet, uns alle in ein schlechtes Licht zu stellen, indem sie uns mehr oder weniger unterstellen, das zu lehren, was Pelagius lehrte. Nach dem, was ich von Pelagius gelesen habe, vertritt er durchaus einige richtige Lehren und gesteht durchaus ein, dass wir der Hilfe Gottes bedürfen. Mir wurde immer nur gesagt, Pelagius glaube, wir seien gut geboren und bräuchten Gottes Hilfe nicht, um das Gute zu tun. Aber in dem, was ich gelesen habe, hat er das nie so gesagt. Damals war es scheinbar allgemeine Praxis, wenn jemand als Häretiker galt, wurden er und seine Schriften verbrannt, und deshalb sind viele seiner Schriften nicht erhalten geblieben. Er scheint dieser Schwarze Mann geworden zu sein. So etwa, wie man von Hitler spricht. Hitler ist der schwarze Mann, mit dem bösen Charakter. Wenn ich also in der Politik Donald Trump oder Barack Obama mit Hitler assoziieren kann … Ich kann also nach Zitaten suchen, wo ein bestimmter Politiker etwas gesagt hat, was irgendwann auch Hitler mal gesagt hat, dann kann ich behaupten, dieser Politiker hat einen bösen Charakter. Das Gleiche können wir auch mit Pelagius machen. „Schau mal, was Pelagius glaubte, er hatte einen bösen Charakter, und diese verkehrten Arminianer, oder diese verkehrte Provisionalisten, diese Südbaptisten, diese Leute lehren etwas, das sich SEHR nach dem anhört, was Pelagius lehrte“. Deshalb sind das dann Pelagianer – oder zumindest Semi-Pelagianer. Das sind dann die schwarzen Männer. Könnten wir diese Vorgehensweise nicht legitimer Weise auch umkehren und nach dem gleichen Prinzip argumentieren? Könnten wir nicht calvinistisch geprägte Menschen dann Semi-Gnostiker nennen?

Wilson: Oh ja, das stimmt. Sie haben absolut Recht mit Pelagius. Die Schriften, die uns erhalten geblieben sind, unterstützen das, was Sie sagen. Ich kann das bestätigen, weil ich sie gelesen habe. In meiner Dissertation zeige ich das auf. Auch zeige ich, dass Augustinus zu Verleumdungen griff. Er war der Erste, der falsche Anschuldigungen gegen Pelagius aufbrachte. Augustinus war eher ein Polemiker und Rhetoriker, als dass er ein Schriftforscher gewesen wäre. In einem Brief an Hieronymus gab er es selbst zu. Wir haben hier einen Mann, der sich in einer Angriffshaltung gegen Pelagius befand. Es ist kürzlich ein großartiges Buch von Bonner herausgekommen, „Der Mythos des Pelagianismus“, welches das Thema behandelt.

Flowers: Augustinus stammte ja aus Nordafrika und konnte kein Griechisch. Er hatte wohl eine schlechte Erfahrung mit dem Griechisch-Unterricht gemacht. Er war von seinem Griechisch-Lehrer missbraucht worden und wollte deshalb nichts mehr mit der Sprache zu tun haben.

Wilson: Wenn man sich durch seine Werke liest, kann man erkennen, wann er begann, ein wenig Griechisch zu lernen und wie er versucht, etwas davon einzufügen. Das geschah aber erst, nachdem er sich der deterministischen Theologie zugewandt hatte, dass er Griechisch zu lernen begann. Er hatte also seine Wende schon vollzogen, als er mit dem Griechisch-Lernen anfing.

Flowers: Ich denke schon, dass es einen Einfluss darauf hat, wie man die Bibel versteht, ob man mit der ursprünglichen Sprache und Kultur vertraut ist. Es waren ja schon mehrere hundert Jahre nach der Niederschrift des Neuen Testaments verflossen. Das ist eine lange Zeit. Vor dreihundert oder vierhundert Jahren wäre ich hier an der Stelle, an der ich jetzt sitze, wahrscheinlich von Cherokee-Indianern umringt gewesen. Wenn man sich vorstellt, was sich alles in den letzten dreihundert bis vierhundert Jahren in Texas verändert hat. Man stelle sich vor, welcher Wandel sich wohl von der Zeit an, in der Jesus auf der Erde wandelte und die Apostel das Neue Testament schrieben, vollzogen hat bis zu der Zeit, als Augustinus erstmalig auftauchte, der als manichäischer Gnostiker gelebt hatte, aus Nordafrika stammte und kein Griechisch kannte, und der, wie Calvin selbst zugab, etwas lehrte, das für die frühen Kirchenväter einzigartig und neu war.

Wilson: Nicht nur Calvin, die meisten heutigen reformierten Theologen von akademischem Rang haben erkannt, dass Augustinus derjenige ist, der das neue Lehrsystem in die Christenheit eingeführt hat. Interessanterweise, wenn man sich in der patristischen Forschung umschaut, da gibt es ein Werk, das die Erbsünde behandelt und dort heißt es, dass die patristische Periode mit Augustinus BEGINNT. Diese Periode BEGINNT mit Augustinus. Da fragt man sich: „Moment mal, was ist mit den dreihundert Jahren vor Augustinus? Wo sind die Kirchenväter vor ihm abgeblieben?“ Sie alle lehrten die Erbsünde. Aber es war nicht die gleiche Erbsünde. Diese Darstellung ist also schon ziemlich amüsant.

Flowers: Es gibt ein Video auf Youtube, in dem ähnlich vorgegangen wurde. Es wurde da Folgendes gesagt: Um zu entdecken, was die frühen christlichen Autoren lehrten, müssen wir zu den frühsten Kirchenvätern zurückgehen. Und den ersten, den sie zu Wort kommen lassen, ist Augustinus. Moment mal, was ist mit Tertullian, Polycarp, Ignatius und Irenäus? Was lehrten sie? Haben Sie in der Vorbereitung für Ihre Arbeit auch die Werke dieser frühen Kirchenväter gelesen?

Wilson: Das habe ich in der Tat. In meiner Dissertation gibt es viele Kapitel, in denen ich die Ansichten aller Kirchenväter in Bezug auf die Erbsünde und die Freiheit des Willens diskutiere. Die frühsten Christen, die Theologen, die Sie gerade erwähnten, Irenäus, Tertullian, usw., sie argumentieren alle gegen die Stoiker und gegen die Manichäer und die Gnostiker. Sie wiesen alle darauf hin, dass der christliche Gott ein Gott ist, der eine Beziehung zum Menschen haben möchte. Er weiß in seinem Vorherwissen, wer sein Angebot erwidern wird und wer nicht. Es ist nicht etwas Willkürliches, was da passiert, wie die Stoiker und die Gnostiker glaubten und die Manichäer glaubten. Die frühen Kirchenväter bekämpften also genau die Dinge, die Augustinus dann schließlich als die Wahrheit ausgab. Das ist kein Zufall.

Flowers: Wie wirkte es sich aus, dass Augustinus eine eher deterministische Sicht von Gott einführte? Wie kam es zu der historischen Entwicklung, dass die Kirche als Ganzes, zumindest der westliche Teil der Kirche, der Linie Augustins folgte? War er der bessere Autor? Hatte er mehr Einfluss auf die öffentliche Meinung? Was ist da passiert, dass die Kirche, zumindest die römisch-katholische Kirche zu der Zeit, dieser Denkrichtung folgte?

Wilson: Augustin bekam sofort Widerstand, als er begann, diese Lehre zu verbreiten. Sogar in Nordafrika verwarfen Mönche seine Lehren mit der Begründung, diese Lehre würde jeden Sinn für Moral und Verantwortlichkeit beseitigen. Er bekam also sofortigen Widerstand. Das Interessante ist, dass er jemand war, der Irrlehren widerlegte. Er widerlegte die Donatisten, die Manichäer, nachdem er Christ geworden war, und dann bekämpfte er die Pelagianer. Wir haben hier also diesen Menschen, der als ein Streiter gegen Häretiker bekannt ist. Wenn er nun etwas aufbringt, was nicht ganz korrekt ist, wird er dennoch respektiert. Sogar Hieronymus stimmte nicht mit Augustinus überein, Augustinus wird also ein wenig zurückgepfiffen. Sogar der Papst stimmte nicht mit ihm darin überein, dass ein Baby errettet wird, wenn es in ein Taufbecken getaucht wird, und dass es ohne diesen Taufakt verdammt wird. Die katholische Kirche stimmt bis zum heutigen Tag nicht damit überein, obwohl Augustinus als der Vater der römisch-katholischen Kirche gilt. Was also passierte, ist Folgendes: Da Pelagius, wie Sie schon sagten, als Bösewicht, als schwarzer Mann verteufelt wird, wird auch alles, was er gesagt hat, ebenfalls scharf abgelehnt. Jahre später, auf dem Konzil von Orange, werden nicht alle Lehren von Augustinus befürwortet, wohl aber sein anti-pelagianischer Standpunkt. Das ist vernünftig. Erst viele Jahre später griff Thomas von Aquin die Lehren von Augustinus erneut auf und bearbeitete einige Dinge, so dass die Ansichten des Augustinus jetzt ein wenig besser in die traditionellen Lehren passen. Ich schreibe gerade an einem Buch zum Konzept der Souveränität Gottes und schaue mir den historischen Einfluss dieses Gedankens an, beginnend mit Augustinus – genauer sogar mit der Zeit vor Augustinus – und bis hinein in die moderne Zeit. Wie sich dieses Konzept entwickelte und welche Entwicklung wir heute beobachten. Bis zum heutigen Tag gibt die katholische Kirche nicht gerne zu, dass Augustinus die doppelte Prädestination lehrte, was er drei- bis viermal in seinen Schriften tat. Die katholische Kirche erkennt das nicht an; sie berufen sich auf seine frühen Schriften und sagen, er habe an den freien Willen geglaubt. Sicher, das tat er damals, aber in seinen späteren Schriften sagt er, der freie Wille sei wertlos. Er sagte: „Ich habe versucht, den freien Willen zu bewahren, aber Gottes Gnade hat triumphiert.“

Flowers: Menschen können ihre Ansichten ändern, wie meine eigene Lebensgeschichte beweist. Ich war ja zu einem Zeitpunkt meines Lebens ein 5-Punkte-Calvinist. Meine Ansichten haben sich auch geändert. Aus meinen frühen Schriftstücken und meinen frühen Predigten könnte man auch ableiten, Leighton Flowers glaubt an den Calvinismus. Aber meine Ansichten haben sich geändert. Man kann das auch bei anderen feststellen, z.B. sicherlich bei Arminius. Seine frühen Schriften waren wahrscheinlich viel calvinistischer. Offensichtlich veränderten sich die Schriften des Arminius im Verlauf seines Lebens entsprechend seinem eigenen Reifeprozess. Und Ähnliches könnte man auch sicher von Augustinus sagen.
Wenn ich das auf heute übertragen würde und ein modernes Szenario von dem, was damals stattfand, entwerfen würde: Nehmen wir mal als Beispiel Ravi Zacharias, der bekannt ist als jemand, der Irrlehren aufdeckt. Er ist sehr erfolgreich darin, das Christentum gegen den Atheismus zu verteidigen, und bei anderen Themen. Nehmen wir an, er hätte sich noch nicht klar gegen eine bestimmte Lehre positioniert, und dann würde er überraschend in eine Debatte mit jemandem verwickelt werden, der versucht, Irrlehren einzuführen, vielleicht etwas ähnlich Abweichendes wie Pelagius damals vertrat, und Ravi Zacharias würde sich plötzlich in der Hitze einer Debatte wiederfinden. Und alle, die großen Respekt vor ihm haben, würden mit großer Besorgnis sehen, wie bei ihm das Pendel zu weit zur anderen Seite schwingt, sehr weit weg von dem Konzept des freien Willens in die manichäisch-gnostisch-deterministische Richtung. Aber man wüsste gar nicht, wie man ihn zurückpfeifen sollte. Denn immerhin ist er unser Frontsoldat, er ist gegen all diese Irrlehren aufgestanden, dieser Mensch, der früher ein Manichäer war und jetzt einer der Unseren ist. Wir möchten weiterhin zu ihm halten und ihn als unseren Helden ehren. Aber jetzt begäbe er sich wieder in seinen früheren Gnostizismus, und wir wüssten gar nicht, wie wir damit umgehen sollten. Ist das eine gute Beschreibung von dem, was damals passiert ist?

Wilson: Ja, genau. Gewöhnlich sind diese Fakten, die wir hier diskutieren, den Menschen unbekannt. Aber meiner Meinung nach kann man diese unterschiedlichen Ansichten nur verstehen, wenn man die historischen Wurzeln kennt. Am Ende meines Buches liste ich all die Bibelstellen auf, die die Manichäer verwandten, um ihre Lehre zu unterstützen. Und raten Sie mal, welche Bibelstellen das sind! Es sind die identischen Stellen, die heute von Calvinisten benutzt werden. Ist das ein Zufall? Nein. Als Augustinus gegen Fortunatus argumentierte, sagte er deutlich, dass Epheser 2 nicht bedeute, dass Gott den Glauben schenkte. Als er mit anderen Manichäern stritt, argumentierte er, dass Römer 9 und 10 nichts damit zu tun hätten, dass Gott eine Wahl [zum ewigen Schicksal] träfe. Römer 9 und 10 bezögen sich auf irdische Aspekte. Alle Argumente, die er gegen die Manichäer verwandte, waren korrekt und entsprachen den traditionellen christlichen Ansichten. Und als er seine Wende vollzog, drehte er sich und benutzte für diese Textstellen wieder die identischen manichäischen Auslegungen. Es ist verblüffend.

Flowers: Wo passt Johannes Chrysostomus in die Zeitleiste?
Wilson: Johannes ist ein Zeitgenosse, um 400 herum. Um es meinen Studenten einfach zu machen, sage ich immer: Um das Jahr 400 herum gab es Augustinus, Pelagius, Chrysostomus, Hieronymus – sie alle haben um diese Zeit herum Schriften produziert.

Flowers: In vielen seiner Schriften scheint Chrysostomus den Gnostizismus seiner Zeit zu bekämpfen. Er positionierte sich eindeutig gegen die Lehren, die später von Augustinus gelehrt wurden. Gibt es zu der Zeit weitere Befürworter der Sicht des freien Willens, die gegen Augustinus aufstanden, die man lesen sollte? Oder auch Autoren, die ihm folgten und deren Schriften man lesen sollte? Welche Schreiber sollte man recherchieren und gelesen haben?

Wilson: Es gibt viele Autoren. Wie Sie schon sagten, Johannes Cassanius ist einer, Johannes Chrysostomus ein anderer; Hieronymus lehrte, dass der Mensch noch immer einen freien Willen habe und nicht von vornherein verdammt sei, sondern fähig, an Christus zu glauben; dass wir, wenn wir von Gott gezogen werden, mit unserem menschlichen freien Willen darauf reagieren können. Das ist nicht etwas, was von Gott geschenkt wird. In meinem Buch behandele ich alle christlichen Denker jener Zeit und es gibt niemanden, der das behauptete, was Augustinus behauptete. Sie alle nahmen den gegenteiligen Standpunkt ein. Wählen Sie sich irgendeinen von ihnen aus, jeder nahm den traditionellen Standpunkt ein.

Flowers: Ganz offensichtlich hat Augustinus‘ Ansicht irgendwann seine Anhängerschaft bekommen. Bis heute gibt es ja Leute, die seiner Theologie folgen. Gottschalk wird da wohl irgendwo hineinpassen; nach David Allen, der das Konzept der begrenzten Sühne vertrat, war Gottschalk einer dieser Anhänger. Ich weiß nicht, wie weit Sie die spätere Kirchengeschichte untersucht haben. Offensichtlich gibt es einen Strang deterministischen Denkens, der nach Augustinus weitergesponnen wurde, und der betraf ganz offensichtlich eher die westliche Welt und nicht die östliche Orthodoxie. Können Sie uns dazu noch mehr sagen?

Wilson: Die östliche Orthodoxie hat Augustinus niemals als Kirchenvater anerkannt. Sie verehrten ihn nicht, denn sie beherrschten Griechisch. Sie konnten seine Gedanken nicht nachvollziehen, wenn sie das Neue Testament auf Griechisch lasen. Gottschalk trat um 800 auf, und was wirklich ungerecht war: Er wurde als Häretiker verdammt, dafür dass er nichts Anderes lehrte als das, was Augustin lehrte. Er interpretierte ihn korrekt. Er verstand ihn und konnte ihn erklären und er wurde ein Häretiker genannt, weil er nicht Augustinus, der Streiter gegen die Häretiker war. Er war nur Gottschalk.
Als ich der Rezeption von Augustinus nachging – und ich bin für diesen geschichtlichen Überblick durch die ganze Kirchengeschichte gegangen bis hinein in die Moderne – fand ich Folgendes heraus: Jede Person, die den deterministischen Standpunkt einnimmt, zitiert Augustinus. Sie holen sich ihr Gedankengut alle von Augustinus. Es gibt hier diesen ideengeschichtlichen Stammbaum, der immer weitergeht. Nur eine einzige Person, deren Name ich hier nicht verraten werde, nur eine einzige Person erwarb diesen Standpunkt aus einer anderen Quelle. Welcher? Er war ein eher philosophisch orientierter Reformator und er ging zurück zu den Stoikern. Er hatte diesen Standpunkt also direkt von den Stoikern, und ausnahmsweise nicht durch einen über Augustinus vermittelten Stoizismus. Sehr interessant!

Flowers: Gottschalk galt zu seiner Zeit als ein Häretiker, aber Sie argumentieren, dass er einfach nur die Spätlehre von Augustinus vertrat in Bezug auf den Determinismus und das Fehlen des freien Willens, der von manchen heute der kompatibilistische freie Wille genannt werden würde, was letztlich auch wieder ein Synonym für den Determinismus ist. Noch mal zur Erklärung für unsere Zuhörer, die sich vielleicht gerade eben eingeloggt haben: Kompatibilisten behaupten, so wie ich es verstehe, dass ein Mensch frei ist, solange er das tun kann, was er will; aber das, was der Mensch will, wird von seiner Natur bestimmt, welche von Geburt an durch den Ratschluss Gottes vorherbestimmt ist.
Und Ihrer Einschätzung nach lehrte Augustinus also Folgendes: Der Mensch wird mit einer gefallenen Natur geboren. Das Baby ist verdorben durch seine Schuld, von Geburt an ein Gotteshasser, weil das seine Natur ist, es sei denn, dass Gott einschreitet und seine Natur so umwandelt, dass er jetzt zu Gott kommen will. Ist das zu einfach dargestellt?

Wilson: Nein, das trifft es auf den Punkt. So einfach kann man das erklären. Das stimmt.

Flowers: Gottschalk lehrte das um 800 n.Chr., aber weil er nicht der berühmte Augustinus war, welcher der Streiter gegen die Häretiker war, wurde er selbst als Häretiker angesehen.

Wilson: Er wurde ausgepeitscht und ins Gefängnis geworfen. Wir reden nicht darüber, dass er nur ein Häretiker war. Er wurde dafür bestraft, seine Bücher wurden verbrannt.

Flowers: Wenn man sich also auf die Geschichte als Autorität beruft, dann hängt das jeweilige Ergebnis davon ab, auf welches Konzil man sich beruft. Beruft man sich auf das Konzil von Orange oder auf die Synode von Dordrecht oder auf dieses Konzil oder jene Synode? Deshalb wollen wir uns ja auf die Schrift als unsere erste und wichtigste Autorität berufen. Denn welchen Standpunkt man auch immer einnimmt, man wird immer von irgendwann und irgendwo ein Konzil finden, das diesen oder jenen Standpunkt unterstützte, wie verdreht der auch immer sein mag. Um nochmal auf den Augustinianismus, seine Einführung in die Kirche und wie Gott im Augustinianismus dargestellt wurde, zurückzukommen: Gab es vor Augustinus irgendeinen Hinweis auf eine Debatte?
Wir wissen, dass es von Calvin selbst Zitate gibt, in denen er deutlich zugibt, dass die frühen Kirchenväter vor Augustinus in Bezug auf die Erwählung „verwirrt waren“ und „nicht richtig wussten, wovon sie sprachen“, „es nicht richtig verstanden“. Auch Boettner, ein calvinistischer Historiker, gab zu, dass Augustinus der Erste war, der die Lehre der Vorherbestimmung vertrat. Gab es vor Augustinus unter den Kirchenvätern, wie Polycarp, Irenäus und Ignatius und den anderen bedeutenden anerkannten Kirchenvätern, irgendeine Debatte zu diesen Fragen? Beispielsweise, dass jemand die anderen aufgefordert hätte: „Schaut euch doch mal Römer 9 an, hier finden wir doch etwas zu Gottes Souveränität über unsere menschlichen Wahlentscheidungen.“ Kennen Sie irgendeinen Hinweis, dass irgendwelche Schriftforscher vor Augustinus diese Debatte angestoßen hätten?

Wilson: Nicht in den christlichen Kreisen. Jedermann vertrat in diesem Punkt die gleichen Ansichten. Wie ich in meiner Oxforder Dissertation herausstelle: Wo gibt es das in der Christenheit, dass sich alle einig sind? Das passiert doch sonst nie! Das ist phänomenal, dass sich alle 400 Jahre lang einig waren. Alle glauben an eine allgemeine Souveränität Gottes, so wie ein König ein Land regiert, das heißt aber nicht, dass er das Leben jedes Einzelnen bis ins letzte Detail hinein dirigiert. Er steht aber über allem. Sie alle bekämpften den diktatorischen, jedes Detail bis ins Kleinste regulierenden, Determinismus der Stoiker, Manichäer und Gnostiker. Diese ganzen Jahre über behaupteten sie die gleichen Dinge, bis Augustinus auftrat. Es gab vorher keine Debatte. Das ist allgemein bekannt. Die Enzyklopädien und die großen Gelehrten, die diese Enzyklopädien verfassen, stellen heraus, dass es keinen Konflikt zwischen dem menschlichen freien Willen und der göttlichen Souveränität gab, bis Augustinus kam. Dann begann es.

Flowers: Wenn man noch weiter zurückgeht, in die Zeit Jesu: Da gab es die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener. An verschiedenen Stellen habe ich gelesen, dass von diesen drei Gruppen es die Essener waren, die zu einer deterministischen Denkweise neigten. In Nazareth und der galiläischen Umgebung, in der Jesus und seine Lehren bekannt waren, waren die Essener recht beliebt. Ich habe auch gelesen, dass es [nach Jesus] zwar um die Essener für eine Weile still wurde, aber dass sie später mit der Ausprägung des Gnostizismus in Verbindung gebracht werden können. Haben Sie auch die Essener untersucht? Es scheint so, dass von allen Strängen des deterministischen Denkens, es wohl das Ideengut der Essener war, welches den Gnostizismus mit geformt hat. Die Essener sind es, die uns die historisch interessanten Schriftrollenfunde in Qumran am Toten Meer hinterlassen haben. Haben Sie auch die Schriften der Essener studiert, sind Sie so weit in die Geschichte zurückgegangen?
Wilson: Das habe ich gemacht. Ich habe in meiner Thesis sogar den ganzen Weg zurückverfolgt bis zu den antiken Sumerern. Tatsächlich habe ich aus diesem Grunde ziemlich viel Zeit damit verbracht, die Gemeinschaft von Qumran zu studieren. Die Essener glaubten, dass Gott jeden Atemzug, jeden Herzschlag, jedes kleinste Teil kontrolliert, auch alles was in der Qumran-Gemeinschaft passierte. Und raten Sie mal, was sie beeinflusst hat?

Flowers: Wer?

Wilson: Der Stoizismus. Es gibt eine sehr deutliche Verbindung zum Stoizismus. Und die einzige weitere uns bekannte jüdische Person, die dieses Thema in einer deterministischen Art und Weise behandelte, war Philo von Alexandrien. Raten Sie mal, welchem Einfluss er unterstand? Dem Stoizismus. Alles weist zurück auf die gleiche philosophische Idee des Stoizismus. Das ist phänomenal. Und Sie haben recht, die Gemeinschaft von Qumran war sehr, sehr deterministisch. Eugene Merrel versucht, die Essener zu verteidigen, indem er behauptet, die Essener machten die Vorherbestimmung an dem Vorherwissen Gottes fest. Aber das stimmt überhaupt nicht. Wenn Sie sich durch die Schriften der Essener lesen würden, so wie ich es getan habe, würden Sie feststellen, dass die Essener keinen Raum lassen für ein Vorherwissen. Sie verwerfen das Vorherwissen als Grundlage der Vorherbestimmung.

Flowers: Ich hatte einige Gespräche mit eher gemäßigten Calvinisten, man könnte sie auch als inkonsistente Calvinisten bezeichnen oder als Leute, die von sich denken, sie seien Calvinisten, aber nicht wirklich wissen, mit welchem philosophischen Hintergrund das verbunden ist, oder welche theologische Implikationen es mit sich bringt. Diese Leute benutzen oft die gleiche Formulierung wie wir, „Gott weiß im Voraus, wie sich der Mensch entscheiden würde, und prädestiniert dementsprechend im Voraus“, und diese Leute denken dann, dass sie damit Calvinisten wären.
Und dann müssen wir stets herausstellen: Wenn man weiß, dass etwas passieren wird und nichts dagegen unternimmt, heißt es noch lange nicht, dass man vorherbestimmt hat, dass dies passieren wird. Es heißt nur, dass man vorher weiß, dass das passieren wird und dass man nichts dagegen unternimmt. Es heißt nur, dass man etwas zugelassen, erlaubt hat. Interessanterweise befasst sich auch Calvin mit dieser „Zulassung“ und bezeichnet diese Idee als etwas, das Menschen, die kindisch und eitel und mit einem schwachen Willen ausgestattet sind, erfinden, um sich nicht der – jedes Ereignis regulierenden – Souveränität Gottes stellen zu müssen. Manchmal scheint es so, als ob heutige Calvinisten, jedenfalls viele von ihnen, unser Vokabular und unsere Sprache ausleihen, um das zu beschreiben, was sie für die gleiche Sache halten wie diese Art von gnostischem Determinismus. Was würden Sie denjenigen sagen, die die calvinistische Soteriologie bestätigen, aber gleichzeitig nicht als theologische Deterministen gelten möchten?
Wilson: Die Debatte zum freien Willen, zum Vorherwissen Gottes und zu Gottes Souveränität entspann sich lange vor Christus. Cicero hatte definitiv einen Einfluss auf Augustinus. Und er musste Vorherwissen verwerfen, um zu seinem Standpunkt zu gelangen. Ich versuche, es meinen Studenten möglichst einfach zu erklären. Die eigentliche Frage lautet: Ist Vorherwissen kausativ? Wenn jemand weiß, dass etwas passieren wird, bedeutet das, dass er das, was passieren wird, auch verursacht? Ich halte also ein Buch oder meine Brille in die Luft und erinnere die Studenten an das Gesetz der Schwerkraft, für das es keine Ausnahmen gibt, und frage sie: Wenn ich diese Brille loslasse, was wird dann passieren? Die Antwort lautet: Sie wird herunterfallen. Dann lasse ich sie fallen. Meine Studenten sagen mir dann: Sie haben soeben den Fall des Gegenstandes verursacht. [Das war dann nicht das, was ich hören wollte.] Nun, das Beispiel war nicht gut gewählt. Meine Studenten haben gewissermaßen Recht, das Bild hinkt. Aber dennoch: Vorherwissen ist nicht kausativ, sondern nur ein Vorher-Wissen.

Flowers: Ich mag das Video von John Lennox, in dem er über dieses Thema spricht. Da sagt er: Wir wissen noch nicht einmal, wie Gott aus dem Nichts heraus etwas erschaffen konnte, wie wissen aber, dass er das getan hat. Genauso können wir auch nicht wissen, wie Gott jedes Detail vorhersieht, das ein freies Geschöpf sich jemals entscheiden wird zu tun, aber wir wissen, dass er es vorhersieht. Wir wissen nur nicht, wie er in seiner ewigen Natur zu diesem Wissen gelangt. Aber mit unserem begrenzten Denken dürfen wir nicht schlussfolgern, dass Gott, weil er alles vorhersieht, deshalb auch alles vorherbestimmt hat und alles souverän kontrolliert im deterministischen Sinne. Das Festhalten an der Allwissenheit Gottes ist etwas ganz Anderes als der Glaube daran, dass Gott alle Dinge „determiniert“, „bewirkt“, „nach seinem souveränen Ratschluss verordnet“. Und, wie Sie sagten, war diese Debatte schon lange im Gange, lange bevor Jesus auf die Welt kam.

Wilson: Diese Unterscheidung in Bezug auf die Allwissenheit Gottes ist sehr wichtig. Ich stelle gerne heraus, dass Gott ohne Zeit existiert. Er lebt gleichzeitig in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eigentlich gibt es für ihn kein Vorherwissen. Es ist eine Vorstellung aus menschlicher Sicht, ein Anthropomorphismus, ein menschlicher Begriff. Niemand glaubte, dass Gott alle Dinge, die geschehen, verursachte, außer den Stoikern, den Gnostikern und den Manichäern, nur diese Bewegungen. Die Christen dagegen hielten an einer allgemeinen Souveränität fest. Sie glaubten nicht daran, dass Gott jedes Detail des Universums plante, damit es genauso und nicht anders ablaufen sollte, als wie er das wollte. Ihrer Ansicht nach erlaubte Gott Freiheit. Gott sagte: „Das hier wird passieren. Das werde ich durch meine Propheten verkünden lassen. Und dann wird das auch zustande kommen. Aber in allen anderen Bereichen werde ich eine gewisse Flexibilität zulassen.“ Das war die allgemein anerkannte Auffassung. Allwissenheit schließt also nicht automatisch mit ein, dass Gott alles, was passieren wird, vorherbestimmt und geplant hat.

Flowers: Manche Leute nehmen die Haltung ein: Wenn ich nicht verstehen kann, wie Gott etwas tut, muss das daran liegen, dass er das nicht tun kann. Deshalb halte ich die calvinistische Perspektive für eine weniger wertschätzende Sicht der Souveränität Gottes. Wir dagegen behaupten, dass Gott so souverän ist, so allmächtig ist, dass er seine Pläne trotz der freien Wahlentscheidungen seiner Geschöpfe durchsetzen kann. Er muss nicht alle Entscheidungen seiner Geschöpfe kontrollieren, um seine Pläne zu erfüllen. Das scheint für mich eine sehr viel höhere Sicht der Souveränität zu sein, als die, welche Calvinisten versuchen zu verbreiten.

Wilson: Ganz genau. Irenäus hat schon das identische Argument im Jahr 188 vorgebracht.

Flowers: Oh, ich dachte, ich hätte es erfunden.

Wilson: Der gnostische Gott ist ein schwächlicher Gott. Denn er muss nämlich alles so haben, wie er es sich gedacht hat. Und Irenäus sagt: „Moment mal, hier haben wir einen Gott, der so groß ist, dass er es den Geschöpfen erlauben kann, nach ihrem freien Willen zu handeln, und der dennoch alles so ausführen kann, wie er es sich vorgenommen hat. Er hat zwar nicht die folgende Analogie gebracht, aber ich möchte das vergleichen mit einem exzellenten Schachspieler, der gegen ein vierjähriges Kind Schach spielt. Er kann dem Kind erlauben, Spielzüge durchzuführen, die gegen alle Regeln verstoßen, und er wird dennoch das Spiel gewinnen. Es gibt da keinen Wettbewerb. Das ist das, was Gott tut. Irenäus bringt genau das Argument, dass der Gott der Christen der mächtigere Gott ist.

Flowers: Zur östlichen Orthodoxie: James Leo Garrett stellt in seinem Werk „Systematic Theology“ heraus, dass im orthodoxen Christentum diese Debatte gar nicht existiert. Ähnlich wie in den ersten drei bis vier Jahrhunderten der Kirchengeschichte kann auch im Osten die Debatte zu Römer 9 und anderen Schriftstellen gar nicht gefunden werden. In der westlichen Welt wird diese Debatte überall geführt. Warum ist das so? Natürlich hat das Ostchristentum ganz andere Probleme. Jede Linie christlichen Denkens hat ihre Schwachstellen, weil wir Menschen ja sündige Kreaturen sind und wir alle unsere Probleme haben. Aber warum existiert diese Debatte im östlichen Christentum praktisch nicht?

Wilson: Ganz einfach: Der Grund ist, dass sie Augustinus nicht in ihr Gedankengut aufnahmen. Würden wir Augustinus aus dem Christentum des Westens herausnehmen, hätten wir diese Debatte überhaupt nicht. So einfach ist das. Die Christen im Osten haben ihn nicht als Kirchenvater anerkannt. Sie bewahrten die Lehren der ersten dreihundert Jahre hinsichtlich der Frage, wer Gott ist und wie der freie Wille des Menschen aussieht und in welcher Beziehung der freie Wille des Menschen zu Gottes allgemeiner Souveränität steht. Da gab es nie ein Problem. Sie lesen die Schrift [in diesem Punkt] noch immer so, wie die ersten Christen sie lasen. Nur wir im Westen haben Probleme, weil wir die Schrift so lesen, wie die Manichäer sie lasen, dank Augustinus.

Flowers: Haben Sie einen Ratschlag für die Zuhörer, die vielleicht an einem theologischen Seminar studieren, oder als Pastoren dienen. Wir haben sogar auch Doktoren der Philosophie, die unser Programm verfolgen – welchen Rat geben Sie denen, die mehr dazu studieren möchten? Vielleicht können Sie uns den Titel Ihres Buches nennen und uns sagen, wie man es erwerben kann. Gibt es weitere Quellen für diejenigen, die das Thema selbst erforschen wollen, die gute Beröer-Christen sein möchten, in dem Sinn, dass sie nicht einfach blind glauben wollen, was Dr. Wilson ihnen da vorlegt, sondern die selber zu der Originalliteratur vorstoßen wollen und alles selber nachlesen wollen. Welchen Ratschlag würden sie diesen Leuten geben?

Wilson: Mein Buch ist ein guter Ausgangspunkt, obwohl es, von Mohr Siebeck verlegt, überteuert ist. Der einfachste Weg ist: Man gibt „Wilson“ und „Augustin’s Conversion“ in die Suchmaschine Google ein, dann erscheint es schon. Der volle Titel lautet: „Augustin’s Conversion from Traditional Free Choice to ‚Non-free Free Will‘: A Comprehensive Methodology“. Der nicht-freie freie Wille ist ein Begriff aus dem Stoizismus und gleichbedeutend mit Kompatibilismus. Da kann man anfangen und dort findet man alle Quellenangaben. Man kann dann den Literaturhinweisen nachgehen und in den Originalschriften nachlesen. Das habe ich ja auch gemacht. Alle Schriften sind verfügbar. Die Sache ist, dass noch nie zuvor etwas Vergleichbares geschrieben worden ist. Es ist das erste Mal, dass solche Ergebnisse veröffentlicht worden sind und der Wandel des Augustinus auf akademischem Niveau offengelegt wurde. Also werden diejenigen, die sich weiter in die Sache vertiefen wollen, Probleme haben, andere, mit meiner Doktorarbeit vergleichbare, Untersuchungen zu finden. Aber wenn man von meiner Arbeit ausgeht, kann man mit Hilfe meiner Quellenangaben in allen Originalschriften selber alles nachforschen, was man nachforschen will, und dann wird man erkennen, dass ich angemessen und fair mit dem Material umgegangen bin. Niemand hat mir bisher vorwerfen können, dass ich unfair mit dem Material umgegangen wäre.

Flowers: Es hat immer wieder Calvinisten gegeben, wie z.B. Michael Horton, der in einem seiner Bücher eine Liste mit Zitaten von frühen Kirchenvätern vorlegt. Sind Ihnen solche Listen bekannt? Wie antworten Sie denjenigen, die die frühen Kirchenväter zur Unterstützung ihrer calvinistischen Position zitieren? Ich hatte das Problem einmal in einer Diskussion mit James White. Ich zitierte Clemens von Rom und White erwiderte: „Clemens spricht mehrere Male von den Auserwählten.“ Als ob die Erwähnung der Auserwählten den Sprecher automatisch zu einem Calvinisten machen würde. Können Sie sich dazu äußern? Was erwidern Sie denjenigen, die eine Liste von Zitaten der frühen Kirchenväter vorlegen, welche calvinistisches Gedankengut unterstützen sollen?

Wilson: Nur wenn man in die Originalschriften geht und sie im Zusammenhang liest, versteht man, was sie aussagen wollen. Wenn man nur einen winzigen kleinen Ausschnitt nimmt, kann man damit alles belegen. Ebenso mit dem Wort „Prädestination“. Viele Kirchenväter benutzten den Begriff „Prädestination“. Das heißt nicht, dass sie Calvinisten waren, sie benutzten das Wort im biblischen Sinn. Wir dürfen nicht unser eigenes Verständnis und unsere vorgefasste Meinung in diese Begriffe hineinlegen und sie dann für Calvinisten halten, was sie definitiv nicht waren. Wenn man die Schriften im Zusammenhang liest und nicht nur ein kleines Zitat herausnimmt, dann gibt es niemanden, den man als Calvinisten betrachten könnte. Vor Augustinus kann man keine Calvinisten finden.

Flowers: Das ist auch meine Erfahrung. Immer wenn mir jemand ein Zitat von einem Kirchenvater schickt – „Schau mal, Tertullian hat das hier gesagt. Er muss ein Calvinist gewesen sein.“ … Und natürlich habe ich fünfzehn andere Zitate von Tertullian, in denen er offensichtlich den freien Willen unterstützt. Dann denke ich bei mir, diese Stelle bedeutet nicht das, was sie in ihr zu entdecken meinen. Aber manchmal hört es sich beim ersten Lesen so an, als wenn man hier eine calvinistische Ansicht vorfände. Und dann komme ich selbst ins Grübeln und dann gehe ich nochmals in den Text und frage mich, was da wirklich ausgesagt wird. Dann stoße ich manchmal zuerst auf ein Übersetzungsproblem. Natürlich ist jede Übersetzung auch eine Interpretation. Wenn man etwas aus dem Griechischen oder aus anderen Sprachen übersetzt, hat man eine gewisse Freiheit, wie man die jeweiligen Begriffe übersetzt.
Aber dann gibt es zweitens den Kontext. In diesem einen von mir genannten Beispiel, wurde mir ein Zitat vorgelegt, welches seinerseits wieder ein Text war, den Tertullian zitiert hatte. Und Tertullian zitierte eine gnostische Quelle, um die Aussage an einer späteren Stelle seiner Schrift zu widerlegen! Damit hat der Zusender es mir natürlich leicht gemacht, ihn zu widerlegen. Nachdem ich ihm diese Widerlegung geschickt hatte, habe ich nichts mehr von ihm gehört, er hat nicht noch einmal reagiert. Ist das auch Ihre Erfahrung? Werden Sie auch manchmal mit Belegtexten aus den Schriften der frühen Kirchenväter konfrontiert, mit denen man versucht, das calvinistische System robuster erscheinen zu lassen, als es wirklich ist? Haben Sie es schon erlebt, das man auf frühe Kirchenväter zurückgreift, die ganz offensichtlich, wenn man sie im Zusammenhang liest, das Konzept des libertären freien Willens unterstützten, an dem auch wir festhalten? Welche warnenden Hinweise können Sie Leuten geben, die offensichtlich die Geschichte umschreiben wollen, um ihr System glaubhafter zu machen?

Wilson: Definitiv ist es unfair, wenn man unaufrichtig ist, indem man Aussagen aus dem Kontext reißt. Ich habe ein ganzes Jahr nichts Anderes gemacht, als, beginnend mit Clemens in Rom um 95 n.Chr., mich durch alle Kirchenväter durchzulesen und zu untersuchen, was sie zu sagen haben. Ich habe in Oxford gelesen, gelesen, gelesen. Alle gelesen. Ich habe zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche gearbeitet, gelesen. Wenn man wirklich ehrlich rangeht, den ganzen Abschnitt liest, ihn in seinem Zusammenhang verstehen lernt, Latein lernt, Griechisch lernt, damit man es im Original lesen kann und nicht von einer Übersetzung abhängig ist, dann erkennt man, dass solche Zitate eine Verzerrung darstellen. Es ist eigentlich ganz einfach, wenn man das Prinzip verstanden hat.

Flowers: Sind Sie beim Lesen irgendwann mal auf etwas gestoßen, dass sich eher deterministisch anhörte und sich erst beim Weiterlesen als traditionell herausstellte, was also nicht so einfach zu erkennen war? Ich versuche mich gerade in Zuhörer hineinzuversetzen, die calvinistisch denken. Sie könnten denken, Dr. Wilson ist parteiisch, er sucht nach einer Unterstützung der traditionellen Sicht, deshalb hält er Ausschau nach Belegen und ignoriert die Abschnitte, die ihnen widersprechen. Als Sie das gelesen haben, haben Sie sich selbst als parteiisch wahrgenommen, haben Sie gemerkt, dass Sie bewusst nach den Dingen Ausschau gehalten haben, die Ihre Ansicht des libertären freien Willen unterstützen, und sind Sie einfach über gegenteilige Aussagen hinweggegangen? Oder haben Sie wirklich versucht, objektiv zu bleiben und beide Perspektiven einzunehmen, um die wahren Ansichten und Absichten des jeweiligen Autors zu erkennen?

Wilson: Als ich anfing zu lesen, hatte ich keine Ahnung, was die verschiedenen Schreiber sagen wollten und was da los war. Es war ganz einfach. Ich ordnete sie einfach in Kategorien an. Ich las das jeweilige Werk ganz durch und dann fasste ich die Hauptaussage des Autors zu dem Thema zusammen und ordnete ihn einer Kategorie zu. Ich startete nicht mit dem Vorsatz, den freien Willen gegen Augustinus beweisen zu wollen, vielmehr war die Frage: „Was sagen diese Leute?“ „Wie kann man das herausfinden?“ Wenn man sie objektiv liest, wird man das finden, was ich gefunden habe. Es geht nicht darum, den Determinismus außen vor zu lassen, sondern man kann ihn nicht finden. Er ist nicht da. Sie unterstützen den Determinismus nicht, sondern bekämpfen ihn.

Flowers: Die Tatsache, dass es Leute wie Sam Storms gibt, der ein führender Calvinist und Teil des Dienstes von John Piper in Oklahoma ist, … Und dann haben wir Lorraine Boettner, der schon erwähnt wurde, Calvin selbst und viele andere bedeutende reformierte/calvinistische Lehrer, die genau dasselbe sagen, dass Augustinus der Erste war, der klar und deutlich diese Ansichten formulierte. Wenn man die Aussagen dieser Leute mit Ihren Ergebnissen zusammennimmt, scheint man ein unschlagbares Argument gegen ein eher deterministisches Verständnis der Schrift in der Hand zu haben.

Wilson: Ja, so ist es, wenn man ein traditioneller Christ bleiben möchte. Wenn man gemeinsam mit Augustinus ein manichäischer Christ sein möchte, kann man gerne einen deterministischen Standpunkt einnehmen. Aber als traditionell orientierter Christ sollte man am freien Willen festhalten.

Flowers: Historischer Traditionalismus. Wir sprechen hier von der kirchengeschichtlichen Tradition, also von der Tradition der ersten 300 Jahre der Gemeinde. Dr. Wilson, vielen Dank für die Zeit, die Sie uns trotz Ihres vollen Terminkalenders gewidmet haben. Sie arbeiten ja noch als orthopädischer Chirurg und reisen im Rahmen Ihrer theologischen Lehrtätigkeit viel umher. Vielen Dank für Ihren Dienst! Wir freuen uns auf weitere Forschungsergebnisse von Ihnen. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal über Folgendes nachgedacht haben: Leider ist unsere Generation nicht gut darin, lange, umfangreiche Dissertationen zu lesen, aber sie lesen sehr gerne kurze populärwissenschaftliche Zusammenfassungen, überschaubare kleine Handbücher. Wenn Sie sich vielleicht die Zeit nehmen könnten, einige der wichtigsten und überzeugendsten Ergebnisse Ihrer Untersuchung in einem kleinen überblicksartigen Leitfaden zusammenzufassen. Ich bin sicher, es gibt Verlage, die so etwas gerne herausbringen würden. Es wäre für die Gemeinde Jesu sehr wertvoll, einen einfachen, populärwissenschaftlichen Zugang zu den Lehren des Augustinus zu erhalten. Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, zwischen Ihren Operationen. Sie haben viel zu tun, das Leben von Menschen zu retten, aber wenn Sie doch irgendwann mal eine Pause machen und einiges in einem verständlichen kleinen Büchlein zusammenfassen könnten, gäbe es ganz sicher Leute, die daran interessiert sind, es zu verlegen.

Wilson: Danke, das ist eine gute Idee. Es könnte gut sein, dass ich das umsetze. Es ist mir sicher möglich, einiges davon zusammenzufassen. Offensichtlich wird das dann nicht akademischen Ansprüchen genügen.

Flowers: Ja, ein verständliches, populärwissenschaftliches Büchlein. Vielen Dank, Dr. Wilson, Gott segne Sie!

Wilson: Gott segne Sie!

Nachwort
Dr. Ken Wilson hat dieses Interview im März 2019 gegeben und bereits im August erschien die zugesagte populärwissenschaftliche Zusammenfassung als kleines Büchlein mit dem Titel „The Foundation of Augustinian-Calvinism“. Es ist bei amazon.de erhältlich und wird aus den USA geliefert (Achtung: hohe Versandkosten). Die Inhalte seiner umfangreichen Doktorarbeit sind hier verständlich, präzise und knapp zusammengefasst. Das Buch ist übersichtlich gegliedert und gut strukturiert, so dass man die einzelnen Kapitel auch versteht, wenn man sie nicht in der vorgesehenen Reihenfolge liest. Die umfangreichen Quellenangaben ermöglichen es, jedes Zitat und jede Aussage von Dr. Wilson selbständig zu überprüfen.
Dr. Wilson hat dieses Buch mit schneller Feder geschrieben und daher ist nicht jede Formulierung bis ins Letzte ausgefeilt. Auch gibt es häufige, in Klammern gesetzte, Ergänzungen. Diese kleinen Unebenheiten werden mehr als wettgemacht durch die sauberen Analysen und die genauen, zuverlässigen Literaturhinweise. Es ist Dr. Wilson hoch anzurechnen, dass er sich nicht zu schade war, seine umfangreiche Dissertation von akademischem Rang für das allgemeine christliche Fußvolk auf populärwissenschaftliches Niveau herunterzubrechen. Für manchen mag das Büchlein auch einen Einstieg in Dr. Wilsons eigentliches Werk, „Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to ‚Non-free Free Will‘: A Comprehensive Methodology“, darstellen.